New Work Selbstorganisation Selbsterkenntnis

6 Einsichten zu New Work: Selbstorganisation braucht Selbsterkenntnis

New Work, agiles Arbeiten, Transformation und Selbstorganisation sind Schlagwörter, die zurzeit die Trainings-, Beratungs- und Personalwelt stark bestimmen.

In den letzten Jahren sind viele Konzepte entstanden, die neues Arbeiten auf eine Art und Weise versprechen, die sowohl profitabel ist als auch die Zufriedenheit der Mitarbeitenden steigert.

In diesem Artikel möchte ich aufzeigen, dass die eigentliche Arbeit dabei nicht auf der strukturell-prozessualen Ebene liegt (Scrum als Methode), sondern auf einer menschlicheren Ebene der Zusammenarbeit.

Um dorthin zu kommen, lasst uns einige Gedanken dazu nachverfolgen. Es lohnt sich, denn am Ende ist es ganz einfach, und deshalb stehen am Ende dieses Artikels die einfachen, sofort umsetzbaren Maßnahmen. Du kannst auch gerne direkt dorthin springen. Vorher jedoch teile ich einige Gedanken aus verschiedenen Perspektiven, zum Teil aus organisations- und wirtschaftspsychologischer, aber auch individualpsychologischer, psychodynamischer und systemischer Perspektive.

1. Einsicht: Selbstorganisation findet immer statt

Der erste Gedanke ist ein Grundgedanke des agilen Arbeitens:
Lebende Systeme – und damit auch soziale Systeme wie ein Arbeitsteam oder eine ganze Organisation – sind grundsätzlich selbst organisiert 1.

Das kennst du sicherlich, wenn du dich gefragt hast, wieso die offiziellen Wege, Prozesse und Strukturen nicht eingehalten werden – in manchen Organisationen ist die informelle Schattenorganisation so stark, dass offiziell kaum noch Veränderungen durchgeführt werden können.

Auch in der Betrachtung eines Individuums zeigen Neurobiologie 2, Körpertherapie 3 und Richtungen wie die Hypnosystemik 4, dass unsere innere Konstruktion eines „Ich“ tatsächlich mehr eine Konstruktion als eine Realität zu sein scheint.

Ein Beispiel dafür: Die meisten Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn dienen nur der internen Verarbeitung. Von 100 % aller Neuronen, die das Sehen erzeugen, haben nur 17 % eine Verbindung zu den Augen. Für jede afferente oder efferente Nervenbahn (zum Gehirn hin oder vom Gehirn weg) existieren mindestens 4 Millionen interne Verrechnungseinheiten.

Gunter Schmidt sagt dazu:

Das Gehirn ist ein wahrer Egoist, es beschäftigt sich hauptsächlich mit sich selbst 5.

Wann hattest du das letzte Mal den Eindruck, dass in einem Unternehmen die internen und externen Kunden eigentlich nur stören, und das Team sich wunderbar auch nur mit sich selbst beschäftigen könnte?

Da ist was dran. Und das gilt für agile Teams genauso wie ein klassisch hierarchisch organisiertes Team in einer Kaskade. Zentral organisierte Führung ist damit grundsätzlich eher eine Illusion als eine tatsächliche Realität 6.

2. Einsicht: Selbstorganisation als Methode ist nicht ausreichend

Auch das kennst du vielleicht aus der eigenen Anschauung:
Viele Organisationen haben Selbstorganisation eingeführt, agile Teams aufgesetzt, Scrum oder Holacracy eingeführt oder sich von Laloux‘ Reinventing Organizations inspirieren lassen.
Sie haben Dailies, Scrums und Retros eingeführt und verpflichtet. Und dann passiert folgendes: In der Retro selbst wird – wie immer – nur gefragt:
“Gibt’s was?“

Alle schweigen und schauen zu Boden, und nach fünf Sekunden Stille wird die Retro beendet. Oder das Team spricht die wirklich schwierigen Konflikte nicht an. Oder das dominanteste Teammitglied spielt wieder den Dauerredner, und alle anderen nicken stumm.

Wenn Selbstorganisation in all ihren Formen eingeführt wird, geht es also nicht nur darum, dass sich Menschen zu einer Retro oder einem Daily zusammenfinden und alles andere bleibt wie immer.

Selbstorganisation, Agilität und alle damit verbundenen Begriffe sind eigentlich der Versuch, eine bestimmte Qualität zu erzeugen. Eine stimmige, angemessene, passende, zielorientierte Qualität, die sowohl profitabel ist als auch zufriedenheitssteigernd für alle engagierten Mitarbeitenden.

3. Einsicht: Selbstorganisation muss also an sich gestaltet oder umgestaltet werden

Ein Team ist immer auf eine gewisse Weise selbstorganisiert. Jede Gruppe von Menschen, die zusammenarbeitet, kennt das Phänomen der Gruppendynamik, das seit dem Zweiten Weltkrieg beforscht wird 7.

Jede Organisation ab einer bestimmten Größe hat mit den Themen Macht und Mikropolitik zu tun 8auch selbstorganisierte Teams sind nicht frei von Interessen.

Agilität und Selbstorganisation sind eher Versuche, diese ohnehin stattfindenden Prozesse und Energien in der Zusammenarbeit auf den Kunden auszurichten und die Produkte und Arbeitsweisen entsprechend anzupassen. Das ist die besondere Qualität, die erzielt werden soll.

Dazu muss nicht Selbstorganisation eingeführt werden, denn Selbstorganisation findet ohnehin statt. Dazu muss die Selbstorganisation gezielt ausgerichtet werden und damit das Verhalten jedes Einzelnen.

4. Einsicht: Um Selbstorganisation zu gestalten, ist Selbstwahrnehmung die Basis

Wie findet man nun heraus, ob die eigene Sicht- und Herangehensweise zu dieser Qualität passt? Vor allem da es keine Führungskraft gibt, die mit Feedback versucht zu steuern.

Selbstorganisierte Teams sollen das aus sich herausschaffen, zum Teil mit Unterstützung eines agilen Coachs. In vielen Organisationen wird der aber nur gerufen, wenn es das Team alleine nicht mehr hinbekommt oder die Arbeitsergebnisse bereits im Keller sind. Das Team und jedes Teammitglied selbst muss es also irgendwie bemerken, dass etwas nicht stimmt, es ansprechen und dann im Team gemeinsam lösen, bevor kleine Hindernisse zu blockierenden Konflikten angewachsen sind.

5. Einsicht: Bessere Selbstwahrnehmung steigert messbar und deutlich die Unternehmensergebnisse

Das funktioniert nur auf der Basis einer gut funktionierenden, geschulten Selbstwahrnehmung.

Auch Chade Meng-Tan, Googles berühmter „Jolly good fellow“ 9 und Begründer des Programms „Search inside yourself“, nennt Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis als die wesentlichen ersten Schritte zu mehr Profitabilität und Glück bei der Arbeit.

Und das nicht ohne Grund: Chade Meng-Tan legt ausführlich dar in seinem Buch „Search inside yourself“, dass und wie dieses Trainingsprogramm zu besonders guten Arbeitsergebnissen, außergewöhnlichen Führungsleistungen und mehr Zufriedenheit führen.

Auch SAP hat ein äußerst erfolgreiches Achtsamkeitsprogramm aufgelegt, an dem mittlerweile mehr als 11.000 Mitarbeiter teilgenommen haben.
Laut SAP haben sie einen 200%igen Return on Invest: Höheres Wohlbefinden, bessere Konzentration, mehr Klarheit und Kreativität, weniger Überforderung und Stress, Rückgang an Krankheitstagen sowie bessere Werte bei Employee Engagement Index und Business Health Culture Index.

Dazu muss man sagen, dass diese beiden Werte messbaren Impact haben:
Jeder Prozentpunkt beim Employee Engagement Index entspricht 50 bis 60 Mio. Euro mehr Gewinn, jeder Prozentpunkt beim Business Health Culture Index entspricht 85 bis 95 Mio. Euro Gewinn 10.

Chade Meng-Tan beschreibt den Google-Spirit in seinem TED-Talk als etwas, was man den Kern der Selbstorganisation nennen könnte.

Jede*r Googler kann die Welt verändern, denn die Initiativen entstehen als Graswurzel-Bewegung und werden, wenn sie gut sind, von der gesamten Organisation übernommen.

So haben z. B. drei Googler ein Krankenhaus in Indien gebaut, das erstmals 200.000 Menschen medizinisch versorgt. Andere Googler haben sich eine Stellenbeschreibung geschrieben, um Corporate Social Responsibility im eigenen Unternehmen zu unterstützen und sich selbst darauf beworben.

Die meisten Unternehmen, mit denen ich in meiner Funktion als Unternehmensberater und Coach spreche, möchten genau das bei sich implementieren, wenn sie von Agilität und Selbstorganisation sprechen.

6. Einsicht: Selbstwahrnehmung und emotionale Intelligenz steigern das Geschäftsergebnis messbar

Methodische und strukturelle Selbstorganisation und Agilität geben einen guten Rahmen, um solche Ergebnisse zu erzielen. Sie sind aber nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung 11, denn die Mitarbeiter müssen Selbstorganisation leben und mit Qualität füllen.

Das lässt sich am besten und Einfachsten durch Aufmerksamkeitstraining und emotionale Intelligenz erreichen. Und die lässt sich sehr leicht implementieren.

Beispiele finden sich bei Laloux 12, auf der Website von SAP und bei Search Inside Yourself. Wie angekündigt schließt der Artikel damit, dass es am Ende ganz einfach ist und mit sofort umsetzbaren Maßnahmen.

Viel Freude und Erfolg bei der Anwendung und der Steigerung deiner Profitabilität und Zufriedenheit!

– Euer Harald von Aschoff


Übung 1: Innehalten und beobachten

Die erste Übung ist sehr leicht umzusetzen, jederzeit möglich und sie wird zur täglichen und häufigen Anwendung empfohlen.

Die Übung besteht darin, die gegenwärtige innere oder äußere Tätigkeit kurz zu unterbrechen, ohne etwas zu verändern. Dabei einfach wahrnehmen, was gerade ist, ohne es zu verändern oder zu beurteilen. Wahrnehmen, was ist. Gedanken, Stimmungen, Körperempfindungen, vielleicht sogar Gefühle. Beobachten bedeutet, eine innere Distanz zum Erleben einzunehmen, sich also in etwa so zu beobachten wie eine außenstehende neutrale Person, mit großer Klarheit und Objektivität.

Die Übung ist z. B. sehr nützlich beim Essen oder wenn du einen Weg zurückzulegen hast – nicht über den gerade beendeten oder gleich beginnenden Termin nachdenken, sondern für einen Moment einfach nur gehen. Nach einer kurzen Zeit von wenigen Sekunden führst du deine Tätigkeit einfach weiter aus wie zuvor.

Übung 2: 1 Minute zum Ankommen

Sehr geeignet für einen geschäftlichen Kontext und auf der Website von SAP findest du eine gute Anleitung:

Gib dir und allen anderen Anwesenden eine Minute Zeit, um ein Meeting zu beginnen.

Die Einleitung kann z. B. so aussehen: „Wir möchten in diesem Meeting konzentriert unsere Ziele erreichen. Lasst uns dazu eine Minute nehmen, um uns vorzubereiten und auf dieses Meeting und die Anwesenden einzustellen. Das geschieht in Stille, jede und jeder für sich.“

Setze einen Timer, der nach einer Minute an das Ende erinnert. Am besten mit einem eher unauffälligen Ton, um im eigenen Tempo wieder in Kontakt mit den anderen zu treten, ohne aus den Gedanken gerissen zu werden.

Wenn du die Übung intensivieren willst, kannst du die Anwesenden einladen, ihre Gedanken, Stimmungen und Körperempfindungen genauer wahrzunehmen und zu beobachten.

Es würde den Rahmen hier sprengen, die Wirksamkeit zu belegen; doch ist sehr gut in Studien nachgewiesen, dass die innere Distanz zum eigenen Erleben mehr Handlungsmöglichkeiten und Kreativität ermöglicht und störende Gefühle und Gedanken weniger Macht über einen selbst und die Zusammenarbeit entfalten.

Übung 3: Mind-Body-Heart Check-In

Diese Übung stammt von SAP:

Vor Beginn eines Meetings, einer Präsentation, eines Auftritts o.ä. drei Atemzüge lang wahrnehmen, wie man gerade in der Situation präsent ist.

Übung 4: Wohlwollen

Die letzte Übung ist vor allem in der Führung und im Verkauf sehr wirksam, aber auch eine große Challenge. Chade Meng-Tan empfiehlt diese Challenge vor jedem Kontakt mit einem anderen Menschen.

Bevor wir zur Anwendung kommen, ein Blick auf die Auswirkungen: Menschen werden sich dir eher zugeneigt fühlen, sie werden dir mehr Vertrauen schenken, sie spüren dein Wohlwollen und reagieren positiv darauf.

Konflikte werden im Vorfeld entschärft.

Die Übung besteht darin, jedem Menschen bei der Begegnung innerlich zu sagen: „Ich möchte, dass du glücklich bist.“


Harald Von Aschoff ist Partner und Consultant bei Coverdale Team Management Deutschland. Er hat langjährige Erfahrung im Bereich Training und Coaching und gibt dieses Wissen regelmäßig als Supervisor weiter. Seine Passion für asiatische Kampfkunst und seine Leidenschaft für Wissenschaft kombiniert er zu intelligenten und wirksamen Workshops. Mehr zu Hararld findet ihr auf der Seite von Coverdale Deutschland.


Footnotes

  1. Eine Übersicht über den Begriff Selbstorganisation aus systemischer Sicht z. B. bei Carl-Auer Verlag: https://www.carl-auer.de/magazin/systemisches-lexikon/selbstorganisation.

  2. z.B. Gerhard Roth/Alica Ryba: Coaching, Beratung und Gehirn.

  3. z.B. Gustl Marlock/Halko Weiss: Handbuch der Körperpsychotherapie; Halko Weiss, Michael Harrer, Thomas Dietz: Das Achtsamkeits-Übungsbuch.

  4. z.B. Gunter Schmidt, Matthias Varga von Kibed, div. Veröffentlichungen.

  5. Nachweis und Zitat aus Gunter Schmidt: Du hast keine Chance – nutze sie. Vortrag abrufbar unter https://shop.auditorium-netzwerk.de/detail/index/sArticle/5203.

  6. Schon Sigmund Freud wurde vorgeworfen, dass er den Menschen dazu degradiere, dass er nicht mehr Herr im eigenen Hause sei. Im organisationalen Kontext fällt dieser Umstand immer besonders auf, wenn eine Veränderung nicht von der Organisation angenommen wird und damit scheitert. Laut verschiedenen Studien kann das sogar eine Mehrheit aller Projekte betreffen – und ist damit eher die Regel als die Ausnahme.

  7. z.B. von Kurt Lewin und Jacob Moreno.

  8. Vgl. z.B. Oswald Neuberger: Macht und Mikropolitik in Unternehmen. Beispiel für eine mikropolitische Taktik ist ein eMail-Verteiler: Wenn jemand ein Fehlverhalten eines Kollegen ansprechen will und dabei Vorgesetzte, Teammitglieder und andere Abteilungen in cc setzt, hat das meist keine sachlichen, sondern politische Gründe, z.B. den anderen bloßstellen.

  9. https://www.ted.com/talks/chade_meng_tan_everyday_compassion_at_google.

  10. https://news.sap.com/germany/2018/09/achtsamkeit.

  11. Notwendig deshalb, weil auch die Googler nur so handeln können, weil es keine anderslautenden, limitierenden Vorschriften und Strukturen gibt. Wenn solche Initiativen von „oben“ erstickt werden, bevor sie wirksam werden können, ist das Individuum ebenso machtlos und unfähig, gute Ideen umzusetzen.

  12. Fredric Laloux: Reinventing Organizations. Es gibt zwei Bücher, ein sehr gutes, illustriertes Buch, und ein sehr detailreiches, in dem zahlreiche Belege und Umsetzungsbeispiele enthalten sind. Siehe auch https://www.reinventingorganizations.com.

  13. Antonio Damasio: „Der Körper ist die Bühne der Gefühle“. Somatische Marker (Körperempfindungen wie Anspannung oder Schmerzen) zeigen uns an, was „gerade in uns los ist“. Die meisten Menschen haben dazu kaum einen Zugang, der Zugang über den Körper ist dafür äußerst hilfreich.

  14. Ingeborg und Thomas Dietz: Selbst in Führung – mit dieser Anleitung kannst du dir mehr Selbstführung für verschiedene Situationen erarbeiten.